Von „votarem“ zu #tsunamidemocràtic

Von „votarem“ zu #tsunamidemocràtic

Es ist nicht so, dass meine persönliche Meinung gewicht hat. Auf die Frage eines Freundes „Wie beurteilst du denn nun die Lage in Katalonien?“ - nach einer ereignisreichen Woche mit großen zivilen Ungehorsam – versuche ich, eine Antwort und persönliche Einschätzungen zu liefern.


Am 1. Oktober 2017 gingen Bilder von Polizeigewalt aus Katalonien rund um die Welt. Friedliche Wähler*innen erfuhren direkt und unverblümt, was es bedeutet, wenn Angelegenheiten in Teilen des spanischen Staates nicht so laufen, wie es sich die zentrale Regierung mit ihren angedockten Polizei- und Justizapparaten vorstellt. Ein massives Polizeiaufgebot sollte die Verfassungspräambel „Spanien unteilbar“, welche mit der 78er Verfassung von einem nicht demokratisch legitimierten Bourbonenkönig ratifiziert wurde, verteidigen und durchsetzen.

Referendum d'autodeterminació de Catalunya 2017

Die Festlegung eines Referendums durch die Generalität von Katalonien, die Beschaffung und der Schmuggel von in China produzierten Wahlurnen, die Mobilisierungen für die Teilnahme am Referendum und die Organisation des Wahlablaufs durch die CDRs [Comitès de Defensa de la República], die Besetzung von Wahllokalen zur Sicherstellung der Wahlhandlung, das Schaffen der Erfassungssysteme für die Stimmabgabe der Frage “Voleu que Catalunya sigui un estat indepentdent en forma de república?“ wurde mit dem Einsatz von Knüppeln und Gummigeschossen durch „Sicherheitskräfte“ beantwortet.

Während in Galizien verheerende Waldbrände herrschten war es für die Regierung in Madrid wichtiger, „Besatzungstruppen“ in die Region Katalonien im Osten zu entsenden anstatt für ein Eindämmen der Feuersbrunst in Westen zu sorgen. Feuer legen statt Feuer löschen.

Sí o No?

Das Zustandekommen und die Beteiligung an diesem Referendum 1O könnte durch einige geschichtliche Vorspiele der jüngeren Vergangenheit hergeleitet werden: Dem Autonomiestatut von 2005, welches nach der Klage der PP in 2006 mehr das Aussehen eines gerupften Huhns an nahm, der Indignados Bewegung von 2011/2012 auf spanischen Staatsgebiet mit den Platzbesetzungen 15M, das Entstehen einer neuen Linkspartei Podemos in Spanien, das Aufblühen des munizipalistischen Gedankens, die rebellischen Städte mit Eroberungen von Rathäusern durch Bürgerlisten, die plebiszitären Wahlprogramme von katalanischen Parteien 2016, das Erstarken der zivilrechtlichen Organisationen Òmnium Cultural und Assemblea Nacional Catalana oder auch die Ereignisse um das Wirtschaftsministerium 20S in 2017.

90,09 % Ja-Stimmen - 7,87 % Nein-Stimmen

Viel wurde nach dem Ergebnis des Referendums über das zahlenmäßige Resultat geschrieben. Eine zu geringe Beteiligung wurde von Gegnern des Referendums ins Feld geführt, mit dem bewussten oder unbewussten Ausblenden der stattgefunden Repressionen am Abstimmungstag. Eine Unrechtmäßigkeit der Abstimmung nach spanischem Recht schien nicht nur in Spanien ein überlagerndes Element zu sein, auch politische Vertreter*innen von Ländern der EU stießen in dieses Horn - mit der Ausblendung des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Die Verhaftungen der Jordis führte zu keinem Aufschrei in Europa - schließlich war dies eine innerspanische Angelegenheit. Polizeigewalt gegen die eigenen Bürger führte weder zu einer Verurteilung der Ereignisse – es wurde mit Sorge zur Kenntnis genommen – noch zu einem kritischen Diskurs in Brüssel oder Berlin. Eine Unschlüssigkeit der katalanischen Regierungsparteien, wie dieses Wahlergebnis nun umzusetzen sei - verbunden mit einer Fassungslosigkeit ob des Wegsehens der EU-Partner – mündete nicht in einer klaren Linie und einer Weiterführung des Weges zur Republik Katalonien.

"Kauft nicht bei Katalanen"

Katalanische Parteipolitiker*innen, die einen Wählerinnenauftrag ausführten, wurden in Untersuchungshaft gesteckt. Eine paralysierte Wählerschaft, die die Gewalt an 1O zu verarbeiten hatte, sah die Anwendung des Artikels 155 der Verfassung und angesetzte Neuwahlen am 21. Dezember 2017 – welche als Ergebnis eine Sitzmehrheit der Unabhängigkeitsparteien im katalanischen Parlament brachte. Nach mehreren Anläufen auf Grund von Blockaden aus Madrid konnte schließlich Roger Torrent zum Präsidenten der Generalität gewählt werden. Die Katalanophobie in Spanien nahm ein neues Ausmaß an. Gelbe Schleifen waren für Madrid und Unionist*innen eine Bedrohung wie die Havarie eines Atomkraftwerks. Die faschistische Partei Vox, 2013 als Abspaltung der PP gegründet, erlebte einen Höhenflug. In Katalonien verbreitete die opportunistische Inés Arrimades für ihre Partei Ciutadans ihr Gift, bevor sie ihre Karriere in Madrid weiter verfolgte. Die spanische Linke und die zentralen Gewerkschaften UGT und CCOO vermieden einen Schulterschluss mit der Demokratiebewegung in Katalonien und eierten herum. Auch die Bürgermeisterin von Barcelona, Ada Colau, glänzte mehr mit Liberalismus als mit einer klaren Position.

"Auf sie mit Gebrüll"

Während im Fernsehen öffentlich rassistisch gehetzt werden durfte, erfuhren Mitglieder der CDR in Katalonien einer Verfolgung wie Terroristen, wurden angeklagt oder verließen das Land. Musikern wurden ihre Texte als Aufstachelung zum Terrorismus vorgeworfen und wurden ins Exil gezwungen. Auch Parteipolitiker*innen bevorzugten den Weg ins Exil dem einer spanischen Knastzelle. Die für die Unabhängigkeit eintretenden Parteien JuntsxCat [Junts per Catalunya] eines Carles Puigdemont und ERC [Esquerra Republicana de Catalunya] eines inhaftierten Oriol Junqueras schienen sich mehr in Grabenkämpfen um Ämter wieder zu finden als bei den Plänen zur Umsetzung der Republik. Die Hatz der spanischen Justiz und des CNI gipfelte in der Festnahme von Carles Puigdemont in Deutschland und endete in einer Nichtauslieferung und öffentlich angedrohten Vergeltungsmaßnahmen gegen deutsche Touristen von faschistischen Scharfmachern, die nicht rechtlich verfolgt wurden. Der Zentralstaat setzte auf Verfolgung der Unabhängigkeitsbewegung durch die Justiz und lehnte Gespräche oder Verhandlungen mit "den Katalanen" wie ein bockiger Stier ab. Richter Llarena zeigte mehr als einmal seine inhaltliche Unfähigkeit und seine politische Motivation.

Eine unabhängige Justiz?

Eine Kneipenrangelei in Altsasu am 15. Oktober 2016 mündete in einem politischen Prozess und einer wahnsinnigen Verurteilung von acht baskischen Jugendlichen. Die Erinnerungen an die Regierung Felipe Gonzáles der 1980er Jahre und die Doktrin des Richter Baltasar Garzón „Alles ist ETA“ kamen wieder ans Tageslicht.
Eine Gruppenvergewaltigung in Pamplona an einer achtzehnjährigen Frau am 7. Juli 2016, an der ein Beamter der Guardia Civil und ein Soldat beteiligt waren, brachte im „Manada-Fall“ ein skandalöses Urteil.
ETA gab zum 16. April 2018 ihre Selbstauflösung bekannt, Aktivist*innen, die die Waffenübergabe regeln wollten, wurden verfolgt. Der baskische Konflikt war für Madrid beendet und befriedet trotz der weiterhin unter der Dispersión leidenden politischen Gefangenen und ihrer Angehörigen.

Els carrers

Die Streiks der Frauenbewegung 8M erreichte ein nicht zu erwartendes Mobilisierungspotential. Auch die Bewegung der Senior*innen für eine würdige Mindestrente zeichnete auf den Straßen ein Bild, von dem wir in Deutschland nur träumen können.

Tausche Rajoy gegen Sánchez

Die PP und Rajoy stolperten über einen Gürtel und verloren ihren Regierungsauftrag. Stehaufmännchen Pedro Sánchez und seine PSOE übernahmen das Ruder und glänzten nicht mit Dialogbereitschaft und Entgegenkommen sondern mit Wahlkampf, dem Abhalten von Wahlen und einer verbohrten Arroganz gegenüber einem möglichen Bündnispartner Podemos.

Quo vadis, Catatalunya?

Die Unabhängigkeitsbestrebungen in Katalonien schienen zum Erliegen gekommen zu sein, das Unverständnis gegenüber dem Verhalten der eigenen Parteipolitiker*innen wuchs mehr und mehr. Der Blick war stark auf die zu erwartenden Urteile gegen parteipolitischen Führungskräfte der Unabhängigkeitsbewegung gerichtet. Bei der Diada 2019 wurde eine geringere Beteiligung als an den Vorjahren verzeichnet.
Wo war eine Koordination oder Führung der Independistas?

#tsunamidemocràtic

Im Oktober 2019 scheint es so, dass die Unabhängigkeitsbewegung in Katalonien wieder „back to the roots“ ist, dass sie endlich wieder Fahrt aufgenommen hat. Die Kalenderwoche 42 bringt Menschen und ihren Protest auf die Straße, was viele in diesem Ausmaß nicht mehr für möglich gehalten haben. Mag dies nun an einer langen Verarbeitungsphase der Ereignisse des Herbst/Winter 2017 liegen, am Verlust des Vertrauens an das Agieren der katalanischen Institutionen, einer politischen Justiz und der Verurteilung der Politiker*innen, dem oft dummen und unverhältnismäßigen Vorgehen von Madrid, einem Überfluten oder Bruch eines Unentschlossenheits-Staudamms auf Grund von Wut oder neu gewonnener Energie, an Beispielen des zivilen Ungehorsams aus anderen Regionen in Spanien oder auf dem Globus, an der Form der Mobilisierung auch Dank #tsunamidemocràtic:
Der Ruf „Els carrers seran sempre nostres“ hallt wieder in Kataloniens Straßen und auf den Plätzen der Städte und Dörfer und hat wieder Gültigkeit.

Ein gesundes Misstrauen in das Handeln von politischen Eliten und die parlamentarische Demokratie verbunden mit der Rückbesinnung auf soziale Kämpfe belebt jede Demokratie. Wird dieser Weg kontinuierlich weiter geführt, wird er der katalanischen Bevölkerung die Veränderungen bringen, zu der Parlamente nicht in der Lage sind und die sie scheuen.
Eine katalanische Republik macht nur dann Sinn, wenn nicht nur eine andere Fahne für diese Region als Staatsflagge gilt, sondern wenn das Bewusstsein für eine andere Form eines Staates, eine andere Art der Bürgerbeteiligung an politischen Prozessen und eine Auseinandersetzung mit dem herrschenden Wirtschaftssystem stattfindet.

Ein Bruch ist mehr denn je notwendig, der Oktober 2019 stimmt mich positiv, dass der eingeschlagene Weg ein progressives Ziel erreichen kann – früher oder später.

„Es rettet uns kein höh’res Wesen,
kein Gott, kein Kaiser noch Tribun.
Uns aus dem Elend zu erlösen
können wir nur selber tun!“

[k]
für das SCK

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