Ein Satz, den ich halb im Ernst, halb im Spaß oft verwende ist: “Gegen
Judizialisierung, Internationalisierung!” Kannst du dich an die Werbungen von
früher erinnern, bei denen schlechte und gute Eigenschaften gegenübergestellt
wurden? Gegen “was weiß ich, Ten planta!” (Anm. Übers.: Ten planta:
Reinigungsmittel). Gegen bla, bla, bla… Deshalb: “Gegen Judizialisierung,
Internationalisierung!”
Sie versuchen, einen politischen Konflikt in den Justizbereich zu
überführen. Aus einem sehr einfachen Grund, weil sie denken, dass sie bei einem
Urnengang untergehen werden. Sie bringen uns vor Gericht. Ein Problem für das
Bewusstsein, dass, wenn dieses Problem vor die Urnen getragen wird, sie
verlieren werden, wenn sie es jedoch vor die Gerichte bringen, gewinnen sie.
Die Antwort, die sich meiner Meinung nach im Laufe der Monate als die
intelligente erwiesen hat, ist jene der Internationalisierung. Denn sie
bedeutet, weiterhin im Feld der Rechtsprechung zu spielen, aber dies in einem
neutralen, unparteiischen Bereich, dem europäischen zu tun. So fällt ihre
Strategie der Judizialisierung ins Wasser. Jetzt versteht man die Parole
vielleicht besser: gegen Judizialisierung, Internationalisierung.
SCK: Sie waren Mitglied der PSC, Partei für die sie sogar Abgeordneter
waren. Können Sie mir den Grund nennen, weswegen Sie sich entschieden haben,
die Partei 2014 zu verlassen, ein Jahr bevor Sie sich bei den Wahlen mit der
Unabhängigkeits-Formation Junts pel Sí aufstellen ließen?
Toni Comín: Das war nicht so, ich war nie Abgeordneter der PSC. Ich war in
den sozialen Bewegungen, in der Antiglobalisierungsbewegung, Puerto Alegre,
Altermoundialismus, auf der Straße u.s.w.. Pasqual Maragall suchte mich auf da
ich eine Organisation von Menschen aus der Zivilgesellschaft, nämlich Ciutadans
pel Canvi, gegründet hatte und bildete eine Koalition zwischen dem PSC und
Ciutadans pel Canvi (Anm. Übers.: Bürger für die Veränderung). Da habe ich mich
als unabhängiger Abgeordneter für Ciutadans pel Canvi aufstellen lassen. Ich
war sechs Jahre lang Abgeordneter, aber während dieser Zeit war ich niemals
Mitglied der PSC.
Es ist sogar so, dass ich mich dagegen gesträubt hatte, als sie mich
wiederholt darum baten, weil ich mein Profil als Unabhängiger behalten wollte.
So war das. Später, nachdem eine lange Zeit vergangen war, bat mich Montserrat
Tura um Unterstützung, da sie für die Vorwahl für den Stadtrat von Barcelona
kandidierte. Sie verlor und der Kandidat war letztendlich Jordi Hereu, gegen
den wir gemeinsam mit einer Reihe von Leuten in den Vorwahlen konkurriert
hatten. Jordi Hereu verlor die Kommunalwahlen.
So wurde ich, in einer Geste der Brüderlichkeit gegenüber den Leuten die
unsere Rivalen bei der internen Vorwahl gewesen waren und die gerade eine
Niederlage erlitten hatten, Mitglied der PSC obwohl ich die Politik verlassen
hatte.
2010 hatte ich die Politik aufgegeben, aber Mitglied wurde ich 2011. Ich
wurde ein Jahr nachdem ich die Politik verlassen und in mein Universitätsleben
zurückgekehrt war, Mitglied, fast wie in einer Geste der Brüderlichkeit und der
Versöhnung mit den Leuten der PSC, die gerade ihre Wahlen verloren und einen
herben Schlag erlitten hatten. Aber schon kurze Zeit, nachdem ich Mitglied wurde,
stellte sich immer deutlicher heraus, dass die PSC einen Drift hinlegte, der
genau das Gegenteil jener Entwicklung darstellte, die ich und so viele andere
Menschen gerade durchmachten.
Nach dem Urteil über das Statut des Jahres 2010 sah ich immer klarer, dass,
wenn die PSOE nicht energisch genug reagieren würde, der einzige Ausweg, der
übrig bleiben, die Unabhängigkeit sein würde. Wir behielten für eine Weile die
Hoffnung, dass die PSOE eine ernsthafte Verpflichtung gegenüber der
föderalistischen Route eingehen würde. Aber nach dem Urteil des Statuts war
alles, was die PSOE in der Lage zu machen war, die Erklärung von Granada. Ich
erinnere mich, dass ich, als die PSOE die Erklärung von Granada abgab, zu mir
selbst: "bis hier her und nicht weiter" sagte, denn es war der
Beweis, dass die PSOE niemals auf der Höhe der katalanischen Herausforderung
sein würde.
Die Deklaration ist die Bestätigung, dass der plurinationale Föderalismus in
Spanien nie ankommen wird, denn die Rechte möchte ihn nicht und die PSOE auch
nicht. Deshalb wird er nie ankommen und ist eine Utopie, die die Ciutadans pel
Canvi und Pasqual Maragall genährt hatten, aber im Grunde genommen war es eine
Illusion und in jenem Augenblick sah ich das ganz deutlich.
Das ist der Moment, in dem ich mich entscheide, meine Trauer in Bezug auf
die föderale Option, die ich lange mit Begeisterung unterstützt hatte,
abzuschließen.
Ich war überzeugt, dass wir Spanien verständlich machen könnten, dass der
natürliche Ausweg aus der Situation, in der wir uns befanden, ein
plurinationaler Staat war. Jetzt wo ich meine föderalen Hoffnungen und meinen
Kampf dafür aufgegeben hatte, nahm ich, auf persönlicher Ebene, die
republikanischen oder unabhängigkeitsbefürwortenden Thesen an.
Das ist alles. Das einzige ist, dass ich damals im Radio war und das alles
erzählte, denn ich war Professor, lebte ein glückliches und zufriedenes Leben,
viel einfacher und bequemer, wenn man in egoistischen Maßstäben denkt, als das
jetzige, oder? Mit meinem Unterricht, meinen Schülern und meinen Artikeln. Ich
ging ins Radio und berichtete davon und es stimmt, dass es da eine Mitte-links
Partei gab, die esquerra republicana de Catalunya heisst, auf mich aufmerksam
wurde und um mich warb, so lernten wir uns kennen.
Sie schlugen mir vor für die EU-Wahlen von 2014 zu kandidieren, doch ich
lehnte ab. Danach kam der Moment von Junts pel Sí. Da gab es eine Reihe von
Menschen, zum Beispiel verbindet mich eine große Freundschaft mit Lluís Llach,
die die Liste abschließen sollten, die also nicht antraten um zu kandidieren
sondern um die Liste zu vervollständigen, Rupert de Ventós u.s.w. Da sagten
wir: "jetzt ist der Moment gekommen einen Schritt zu wagen, da wenn eine
einheitliche Bewegung für die Republik im Entstehen ist, es Sinn macht daran
teilzunehmen." Als man mir vorschlug in der Liste von Junts pel Sí
aufzuscheinen, sagte ich deshalb: “Ja!” Ich hatte aber dabei nicht die
geringste Ahnung, dass sie mir vorschlagen würden, mich an der Regierung zu
beteiligen und das war auch erst danach.
Die Zusammenfassung lautet also, dass ich niemals Abgeordneter der PSC war,
denn als ich Abgeordneter war, war ich kein Parteimitglied. Und als ich
Parteimitglied war, war ich kein Abgeordneter. Ich habe niemals viel Energie
dafür verschwendet die Kohärenz meiner Laufbahn zu rechtfertigen, da es mir
damit reicht, dass ich sie kenne.
Doch was geschieht ist, dass dann Gerüchte entstehen und ich habe auch nie
viel Energie in die Auflösung dieser Gerüchte investiert, doch wenn man mich
fragt, erkläre ich es. Aber ich möchte sagen, dass es mir nicht viel ausmacht,
denn die Medien sind die Welt der Diffamierung und mir ist es ein bisschen egal
was die Menschen denken. Wenn mich die Leute fragen, werde ich es erklären,
aber das Wichtigste ist, auf der Höhe des historischen Moments zu sein.
SCK: Was erwarten sie sich durch die Unabhängigkeit zu erreichen?
Toni Comín: Also gut, ich glaube, dass ich zu jenem Teil des
Unabhängigkeitslagers gehöre, der die Unabhängigkeit als eine instrumentelle
Frage betrachtet. Es gibt Menschen, die die Unabhängigkeit als eine wesentliche
Frage statuieren, für sie ist die Unabhängigkeit das Ziel an sich. Ich dagegen,
verstehe die Unabhängigkeit als Mittel.
Vor allem ist es ein Mittel zur Rettung der Demokratie. In einem spanischen
Staat, dem es nicht gelungen ist, sich von seiner franquistischen, politischen
Kultur zu befreien - was wir versucht haben - ist letztendlich die einzige
Möglichkeit die sich anbietet, in einem nicht-franquistischen Staat zu leben,
eine unabhängige Republik.
Deshalb ist die Unabhängigkeit ein Medium, das dazu dient eine echte
europäische Demokratie oder, sagen wir, wenn es möglich ist, sogar eine bessere
als die Europäischen, zu erreichen.
Denn ich glaube, hier müssen wir schon feststellen, dass der spanische
Übergang der schlechteste der Übergänge ist, die sich in Europa von einem
totalitären, zu einem demokratischen Regime ereignet haben. Man hat es immer
als das Gegenteil dessen verkauft, nicht wahr? Als den besten aller Übergänge,
als beispielhafte Transition. Nein, tut mir leid! Die beispielhafte Transition
- und doch könnten wir viel Kritik üben - war die deutsche oder die
italienische, wo es einen Bruch mit dem Faschismus und dem Nationalsozialismus
gab. In Spanien erkennt man erst jetzt den schrecklichen Preis, den man dafür
zahlen musste, dass man nicht mit dem Franquismus gebrochen hat.
Was dabei rauskommt, wenn Franquisten und Demokraten gemeinsam eine
Verfassung aufsetzen, ist eine Verfassung die halb franquistisch, halb
demokratisch ist, das ist ja logisch! Im Grunde genommen ist es sehr einfach
und da befinden wir uns eben.
Als Katalonien schon im 19. und 20. Jahrhundert und danach im 21. von
Föderalismus spricht, sagt es im Grunde - zumindest ist das meine Ansicht und
auch die Pasqual Maragalls - lasst mich der sein, der den spanischen Staat
anführt, denn wenn ich ihn anführe, werde ich ihn in Richtung Demokratie
mitschleifen.
Ein Staat, der eine Art imperiale, autoritäre Bürde in sich trägt, der
europäisiert werden muss, der die liberale Revolution im 19. Jahrhundert
verpasst und der niemals eine tiefgreifende demokratische Revolution vollzogen
hat.
Der Föderalismus ist im Wesentlichen, die Art wie Katalonien den
Demokratisierungsprozess in Spanien anführen kann. Er ist also nicht nur eine
Frage der Dezentralisierung und der finanziellen Autonomie, sondern auch eine
Frage über die Rolle die Katalonien bei der Demokratisierung des gesamten
Staates einnehmen kann. Deshalb dachten wir, als wir von einem plurinationalen
Föderalismus sprachen, nicht nur an den Schutz der Interessen Kataloniens,
sondern daran, dass Katalonien die Lokomotive der Demokratisierung Spaniens
sein könnte.
Um zurück zur ursprünglichen Frage zu kommen: Was erwarte ich mir durch die
Unabhängigkeit zu erreichen? Nun, in Anbetracht des Scheiterns des spanischen
Demokratisierungsprozesses durch diese föderale Strategie, die, wie ich betone,
föderal sein würde, um Spanien demokratisieren zu können, lass uns ziehen! Lass
uns ziehen, um einen demokratischen Staat schaffen zu können, denn innerhalb dieses
Staates wird es jedes Mal komplizierter.
Ich hege die Hoffnung, da ich eine Art spanische Leidenschaft in mir trage,
- Xavier Rupert und ich machen immer wieder Witze darüber, dass wir die
pro-spanischsten aller Unabhängigkeitsbefürworter sind - dass Katalonien ein
Trauma im spanischen politischen System hervorrufen kann, das so groß ist, dass
sich das spanische politische System, infolge des Verlusts Kataloniens,
demokratisiert. Wir können es nicht wissen. Mir würde das sehr gefallen.
Es ist wie 1898, nicht wahr? 1898 ereignet sich der Verlust der Kolonien und
die ganze Generation von 1898 wird letzten Endes der intellektuelle Ursprung
der Republik (Anm. Übersetz.: 1989 wurde die Unabhängigkeit von Cuba, Puerto
Rico und Phillipinen, der letzten Kolonien in Übersee, ausgerufen). Ich weiß
nicht, ob sich Spanien, dank der Unabhängigkeit, demokratisieren wird, aber
zumindest ist es unser Wille aus Spanien auszutreten, um eine normale
Demokratie zu erschaffen. Dies ist das Wesentliche und der zweite, nicht
weniger wichtige, Grund - und ich versuche mich jetzt kürzer zu fassen - ist,
dass ich liebend gerne aus Katalonien einen Sozialstaat der Spitzenklasse
machen würde, zu einem Pionier im Süden Europas.
Die Dänen und die nordischen Länder haben sich als Vorbilder bezüglich der
Aufteilung und der tatsächlichen, effektiven Gleichstellung, erwiesen, nicht
wahr? In Bezug auf die Gewährleistung der sozialen Rechte und des
Zusammenhalts, in Bezug auf diese Bereiche, richtig? Also, ich glaube, dass Katalonien
viele Bedingungen dafür erfüllt, um eine Art skandinavisches Land am Mittelmeer
sein zu können.
Wenn wir die Gelegenheit nicht nutzen, aus der Republik einen
Wohlfahrtsstaat zu machen - der in der ersten Liga spielt - oder zu einem
Staat, indem die sozialen Rechte mit viel größerer Intensität als heutzutage
garantiert werden. Ich möchte damit sagen, dass wir dabei die Chance des
Jahrhunderts verpassen würden.
Folglich strebe ich danach, dass die Unabhängigkeit dazu dienen wird, einen
wichtigen Schritt in Richtung sozialer Gerechtigkeit zu machen. So lautet die
kurze Zusammenfassung der Antwort: Ich will, dass die Unabhängigkeit zu einer
echten Demokratie führt -Erste Liga, qualitativ - und ich will die
Unabhängigkeit, damit in Katalonien mehr soziale Gerechtigkeit und mehr
wirtschaftliche Gleichheit herrscht.
SCK: Wir befinden uns in einer Zeit großer Proteste und
Mobilisierungen auf der ganzen Welt, besonders in Europa. Der Ursprung dieser
ist verstreut, aber es verbindet sie die Forderung nach einer radikalen
Veränderung des Systems, in dem wir leben. Was halten Sie von den Bewegungen
gegen den Klimawandel, der der gelben Westen und den feministischen Protesten
um nur ein paar zu nennen?
Comín: Wir haben erst heute Morgen bei der Pressekonferenz
darüber gesprochen. Die Geschichte des zeitgenössischen Europas ist letzten
Endes die Geschichte des Kampfes zwischen Autoritarismus und Demokratie. Rechte
proklamieren und garantieren oder eine Macht, die sich durchsetzt und die
Bürger erdrückt. Morgen fahren wir nach Mauthausen, das ist das radikalste und
extremste Beispiel für die Kontraposition von Autoritarismus und Demokratie.
Diese Frage wirkt sich bis in die europäische Politik des 21. Jahrhunderts aus.
Darüber hinaus glaube ich, dass wir uns, mit dem Misserfolg des Euro-Projektes,
welches die europäischen Eliten als Garant für den generellen Fortschritt
präsentierten und das nach 10 Jahren, einen Scherbenhaufen hinterließ, dieser
Aufgabe erneut stellen müssen.
Anders gesagt, was machen wir jetzt? Glauben wir den
Ammenmärchen des Autoritarismus, des Populismus, der Fremdenfeindlichkeit etc.,
die die Krise auf die Schwachen zurückführen und wundersame Heilmittel
versprechen, die sich dann als falsch herausstellen. Oder wir versuchen den
wahren Geist der Europäischen Union wiederzubeleben, nämlich in Richtung
Demokratisierung voranzuschreiten, was zu großen Teilen genau das ist was
hinter den Bewegungen die Sie mir aufgezählt haben - gegen die Klimaerwärmung,
der gelben Westen und des Feminismus - steckt.
Katalonien versteht man nur und ist nur dann von Interesse,
wenn es als weiterer Schauplatz dieses Kampfes präsentiert wird. Das bedeutet,
dass ich möchte, dass Europa versteht, dass der katalanische Konflikt kein
Einzelfall ist, sondern einen konkreten Schauplatz in einer generellen
Problematik darstellt. Es ist ein europäischer Kampf, daher rufen wir zur
Solidarität der europäischen Demokraten auf, nicht so sehr im Namen der
Unabhängigkeit Kataloniens, sondern der europäischen Demokratie. In diesem
Zusammenhang denke ich, dass die katalanische Unabhängigkeit eine Bewegung ist
dessen Wurzeln mit der Bewegung für das Überleben des Planeten, der
feministischen etc. verbunden sind, denn das Ziel dieser Bewegungen ist die
aktuelle Krise durch einen Demokratisierungsschub zu überwinden.
SCK: Nationalismus ist eine Definition, die große Abneigung
hervorruft und die in vielen Fällen mit Rassismus oder Suprematismus in
Verbindung gebracht wird. Insbesondere zwischen den österreichischen Linken
weckt sie keine Sympathien wegen der schrecklichen Vergangenheit, die sie
umgibt. Österreich ist jedoch eines jener Länder, die den Aufstieg des
Rechtsextremismus und Ultra-Nationalismus in Europa vorangetrieben haben. Was
halten Sie von diesen Bewegungen und welche Unterschiede weisen sie in Bezug
auf den katalanischen Nationalismus auf?
Comín: Ich sage immer, dass die katalanische
Unabhängigkeitsbewegung keine nationalistische mehr ist und ich nicht weiß ob
sie jemals eine war. Ab 2010, als nach dem Urteil des Statuts die Unterstützung
für die Unabhängigkeit von 25 Prozent auf, sozusagen, 50 Prozent hochschießt,
sprechen wir von einer Unabhängigkeitsströmung, die nicht mehr nationalistisch
ist. Sie ist sehr zweisprachig und orientiert sich wenig an identitären
Merkmalen.
Die Unabhängigkeitsbewegung ist voller Vorbilder die
Spanisch sprechen. Deshalb würde ich sagen, dass die katalanische
Unabhängigkeitsbewegung eine, ich würde es wagen zu behaupten,
antinationalistische ist. Und das ist es, was wir Europa erklären müssen...
Dass unser Gegner nationalistisch ist und, dass darüber hinaus der spanische
Nationalismus ein autoritärer ist, der nie Freundschaft mit der Demokratie
geschlossen hat. Als die Katalanisten beobachten wie Europa während dem 20.
Jhrdt. einen Prozess der Demokratisierung eingeht - das ist ein kultureller,
institutioneller, legaler, etc. Wandel - versuchen sie diesen Wind auch in
Spanien einziehen zu lassen, kommen damit aber nicht durch. Sagen wir, es kommt
also ein bisschen daher, dass Nationalismus, im negativen Sinn des Wortes,
nicht für den katalanischen jedoch für den spanischen gilt.
Wenn der spanische Staat nicht so sehr von diesem
autoritären und suprematistischen Nationalismus vereinnahmt wäre, dann würden
die Katalanen vielleicht nicht unabhängig sein wollen, vielleicht wäre es für
uns in Ordnung, in Spanien zu bleiben. Wir Katalanen sind sehr pragmatisch.
Menschen, die problemlos in Vielfalt leben können. Die dominierende Ader des
spanischen Nationalismus ist so stark, dass uns kein Ausweg bleibt, außer der
zu gehen. Sie ist nicht nationalistisch, die katalanische
Unabhängigkeitsbewegung, sondern anti-nationalistisch.
SCK: Trotz der Tatsache, dass ihre politischen Rechte noch
intakt sind, haben Sie sich die Blockade ihrer Kandidatur für die Wahlen zum
Europäischen Parlament durch die Wahlkommission wirklich nicht erwartet?
Comín: Naja erwarten, erwarten wir uns alles, da wir in
eineinhalb Jahren alles mögliche schon gesehen haben. Doch in diesem Fall, ist
der juristische Pfusch, den man beim Versuch unsere Kandidatur zu verhindern
verursachen muss, so enorm, dass - unabhängig davon, ob wir es uns erwarten
oder nicht - es offensichtlich ist, dass es sehr schwierig sein wird, dass sie
ihr Ziel erreichen können. So wie in anderen Fällen Llarena sich großzügig an
der Norm vergangen hat, ohne dass dies verhindert werden konnte, vertrauen wir
bei dieser Gelegenheit darauf, dass dieser juristische Pfusch nicht gedeihen
wird.
SCK: Wie wird sich, ihrer Meinung nach, die politische
Situation in Katalonien entwickeln?
Comín: Tja, es ist schwer, diese Frage zu beantworten! Es
geht nicht so sehr um das, was ich glaube, viel eher geht es um das, was ich
mir wünsche, nicht wahr? Ich denke, dass wir in eineinhalb Jahren an allen
Fronten vorangekommen sind, ob es viel oder wenig ist, darüber könnten wir
diskutieren, aber wir haben uns nicht zurückgezogen.
Auf internationaler Ebene sind wir vorangekommen. Der
Kenntnisstand über den katalanischen Konflikt, den die öffentliche Meinung
erreicht hat, ist jetzt viel größer als noch vor zwei Jahren. Ich glaube, dass
Europa im Allgemeinen langsam versteht, dass die spanische Transition eine
unvollendete ist und, dass es aus diesem Grund noch Überreste des Franquismus
gibt, die den spanischen Staat durchziehen und, dass er deshalb nicht als
normaler Rechtsstaat angesehen werden kann.
Was die interne institutionelle Front betrifft, haben wir
zwei Regierungen, sozusagen, nach Hause geschickt, zuerst jene Rajoys und
danach hat Sánchez Wahlen einberufen müssen. Von nun an werden wir sehen, was
Sánchez mit seiner relativen Mehrheit anstellt, aber bisher ist es eindeutig,
dass die Stabilität der spanischen Politik von der Bewältigung des katalanischen
Konflikts abhängt.
Und dann gibt es noch eine dritte Front, nämlich die interne
Zivilfront. Ich glaube, wir sind da im Sinne dessen vorangekommen, dass wir den
Menschen klar sagen können, und die Menschen können es nicht ignorieren, dass
der Preis, der bezahlt werden muss, um das Ziel zu erreichen, sehr hoch ist.
Bis Ende Oktober wussten wir ja nicht genau, zu welchem Grad der Gewalt der
Staat bereit sein würde. Jetzt ist es bekannt, das Ausmaß der Gewalt, zu dem
der Staat bereit ist, ist vollkommen, nicht wahr? Er kennt keine Grenzen:
gerichtliche, rechtliche, polizeiliche Gewalt, etc.
Ich betrachte es als einen Fortschritt, da wir das der
Bürgerschaft erklären können, was nicht einfach zu verdauen ist, es bedeutet
einen Chipwechsel. Die "Revolution des Lächelns", "die
Unabhängigkeit von Gesetz zu Gesetz", "ich wähle die Unabhängigkeit
und die Politiker setzen sie durch” gehören der Vergangenheit an. Jetzt wissen
wir, dass das nicht so läuft. Deshalb werden wir unser Ziel ohne die Straße
nicht erreichen. All dies erscheint mir ein Fortschritt zu sein. Ich weiß nicht
wie es sich entwickeln wird. Ich weiß aber, dass wir uns verbessert haben, wenn
du möchtest, könnten wir sagen, dass es teilweise kaum wahrnehmbar ist, aber
wir haben uns im Vergleich zu vor anderthalb Jahren verbessert.
SCK: In letzter Zeit herrscht eine große Debatte innerhalb
der Unabhängigkeitsbewegung, die sich um die Frage der zur Auswahl stehenden
Strategien dreht. Es gibt Menschen, die alles darauf setzen, die Unterdrückung
anzuprangern und eine europäische Intervention anzustreben, während andere
meinen, dass nur der zivile Ungehorsam die jetzige Situation verändern kann.
Was denken Sie? Gibt es andere Wege?
Comín: Also ich glaube, dass alles seine Gültigkeit hat und
das man alles integrieren muss. Damit meine ich: ist es gut die Basis zu
verbreitern? Ja! Das ist ja eines jener Dinge, die Esquerra Republicana sagt,
richtig? Was bedeutet die Basis zu verbreitern und, dass bei Wahlen die
Unterstützung der Unabhängigkeit immer mehr Anhänger findet. Ist eine
Verbreiterung der Basis alleine ausreichend? Nein! Ist es in Ordnung, vor der
europäischen Öffentlichkeit die Repressionen, die in Spanien stattfinden,
anzuprangern? Ja, das ist in Ordnung, das schafft Solidarität innerhalb der
europäischen Öffentlichkeit. Reicht es damit aus? Nein! Benötigen wir den
zivilen Ungehorsam? Sicher! Der zivile Ungehorsam ist ein Instrument, das in
der Demokratie grundsätzlich, sagen wir mal, ohne enorme persönliche Kosten zu
verursachen, angewandt werden können müsste. Das heißt, wenn ich sage, dass die
Menschen davon ausgehen müssen, dass die Opfer, die um zu gewinnen gebracht
werden müssen, sehr groß sind, ich eher in wirtschaftlichen Maßstäben denke,
denn ich glaube, dass einer der Wege, die wir mit der Logik des zivilen
Ungehorsams erkunden müssen, der ist, die wirtschaftlichen Interessen des
Gegners zu beeinflussen.
Was ich ungeheuerlich finde, ist, dass der zivile
Ungehorsam, dadurch, dass Spanien diesen autoritären Rückschritt vollzogen hat,
keine wirtschaftlichen Folgen erzeugt hat, dafür aber strafrechtliche, das ist
das Problem. Wir werden sie vielleicht auch hinnehmen müssen, dadurch, dass wir
nicht auf die Ausübung unserer eigenen demokratischen Rechte verzichten werden
nur, weil der spanische Staat sie restriktiv auslegt und als Verbrechen
betrachtet.
Volksabstimmungen sind nicht strafbar. Der erste Oktober ist
kein Delikt. Wenn der Oberste Gerichtshof es zu einem Verbrechen macht, dann
bedeutet das, dass man dafür das Demonstrationsrecht, das Recht auf freie
Meinungsäußerung, das Versammlungsrecht völlig restriktiv auslegen hat müssen.
All das um zu sagen: Verbreiterung der Basis? Super! Die
internationale Front? Super! Im Justizbereich ist die internationale Front sehr
wichtig, wenn wir vor europäischen Richtern Kämpfe gewinnen, ist das ein
wichtiger Sieg, oder etwa nicht? Die internationale Anprangerung? Auch wichtig!
Der zivile Ungehorsam ist es jedoch mit absoluter Sicherheit. Und wenn Sie mich
fragen, welcher dieser Punkte am wichtigsten ist, werde ich sagen, dass es der
zivile Ungehorsam ist, aber alle sind notwendig.
SCK: Was können die katalanische Gemeinschaft im Ausland und
die Menschen, die den Souveränismus unterstützen, tun, um den spanischen
Völkern bei der Ausübung des Rechts auf Selbstbestimmung zu helfen?
Comín: Also gut, ich denke, dass wir der europäischen
Öffentlichkeit vermitteln müssen, dass das was in Schottland möglich ist, auch
für Katalonien gelten sollte. Spanien hat, um die Solidarität der anderen
europäischen Regierungen zu erhalten, ein Argument bedient, nämlich: "das
ist verfassungswidrig". Das Abkommen zur Einheit von Schottland und
England von 1707, besagt im ersten Artikel, dass die Einheit für die Ewigkeit
ist, daher hätte es dort nie ein Referendum geben dürfen. Auch Kanada legt das
so fest und sieht kein Referendum über die Unabhängigkeit des Quebecs vor. Sie
hätten sagen können: "das wird niemals gemacht werden", nicht wahr?
Aber si führten ein Referendum durch. Deshalb müssen wir, wenn Spanien aus der Verfassungswidrigkeit
das Hauptargument macht, dieses Argument diskreditieren.
Dabei müssen wir von zwei Argumenten ausgehen. Erstens: die
Selbstbestimmung verstößt nicht gegen die Verfassung. Wenn es nämlich so wäre
gäbe es nicht die Fälle von Schottland und Quebec. Es gibt immer einen Pakt der
bürgerlichen und politischen Rechte, der der Verfassung übersteht und der die
Einhaltung einer demokratischen Perspektive auf die Ereignisse ermöglicht. Der
andere Grund ist, dass wir damit nicht die Stabilität des europäischen
politischen Systems gefährden. Früher war das anders, aber jetzt wo ein höherer
Integrationsgrad existiert und ein Staat nicht mehr das ist, was er einmal war,
da ein äußerst wichtiger Teil der Kompetenzen, an Brüssel abgegeben wurden,
muss es möglich sein, flexibler mit der Schaffung von Staaten umgehen zu
können. Gerade weil wir eine einheitliche Währung und einen einheitlichen
Handel haben, können wir die Selbstbestimmung der Regionen zulassen, ohne ein
Erdbeben zu provozieren.
Also müssen wir die Selbstbestimmung als politische Affäre
entdramatisieren. Die Selbstbestimmung, die Unabhängigkeit einer Region, wie
beispielsweise im Falle Kataloniens, ist eine interne Erweiterung der Union.
SCK: Sie sind nach Wien gekommen, um der Einladung des
Triangle blau Àustria, anlässlich der Feierlichkeiten zur Befreiung Mauthausens
zu folgen. Was hat Sie dazu veranlasst, diese Einladung anzunehmen?
Comín: Also, es ist eine Ehre! Eine totale Ehre! Außerdem
kenne ich Mauthausen nicht, nur in Hinblick dessen Bedeutung für das
historische Gedächtnis, aber wir - Präsident Puigdemont, Clara Ponsatí und ich
- dachten, dass zumindest einer von uns kommen musste. Denn schauen Sie, es ist
ein bisschen so wie ich vorher schon gesagt habe, in einer anderen Antwort kam
das Lager ja schon vor. Wenn die Geschichte des zeitgenössischen Europas,
äußerst kurz gefasst, die des Kampfes zwischen Demokratie und Autoritarismus
ist - und das geht schon seit dem 19. Jhrdt so - dann ist das extremste
Beispiel dafür der Nationalsozialismus. Die Opfer des Nationalsozialismus sind
die schrecklichsten Zeugen dessen, was es bedeutet, wenn die Politik, Rechte
überrollt, anstatt für sie zu sorgen.
Die Politik hat diese beiden Möglichkeiten, nicht wahr? Der
Gewährleistung von Rechten und Freiheiten zu dienen oder eine Macht auszuüben,
die Rechte, Freiheiten und in diesem Fall auch das Leben - das wichtigste
Menschenrecht überhaupt - zerstampft. Also stehen wir vor dem Nullpunkt des
europäischen Projekts, was in Wahrheit ein universelles Projekt ist. Ich meine
damit, dass es der Nullpunkt dessen ist, was Demokratie und Rechtsstaat
bedeuten müssen, beginnend mit dem wichtigsten und ich glaube, dass eine Art
dauerhaftes Gedenken gegenüber den Opfern den Totalitarismus eingenommen werden
muss. Mauthausen wäre das expliziteste Szenario dieses Dramas, in dem alle
sterben mussten, nicht nur die Juden, sondern auch die Kommunisten, die
Homosexuellen, die Bedürftigen, nicht wahr? Ich glaube, dass jeder der die
Einladung erhält nach Mauthausen zu fahren, die Pflicht hat, diese anzunehmen.
Darüber hinaus, bringt uns das zurück zum Ursprung des
europäischen Projekts, für das wir uns einsetzen wollen. Europa wurde dafür
geboren, dass so etwas nie wieder passieren soll. Wenn es darum geht, dass der
Nationalsozialismus und der Faschismus nie wieder den Kontinent beherrschen
sollen, dann lasst uns nicht vergessen, dass das auch für die iberische
Halbinsel gilt und auch der Franquismus nie wieder Spanien beherrschen soll,
der ja der kleine Bruder des Totalitarismus im 20.Jhrdt ist und sich als der
langlebigste herausstellte.
Man muss es dafür natürlich mit völlig anderen Maßstäben
betrachten, da ja das Ausmaß des Schreckens, das Mauthausen als Metapher und
Realität bedeutet, ganz offensichtlich unvergleichbar ist, aber es muss auch
dazu dienen, den Kampf für Demokratie und Menschenrechte aufrechtzuerhalten.
Die historische Erinnerung muss unseren Kampf, unser Engagement stärken und uns
immer wieder aufs Neue dazu verpflichtet uns für den gegenwärtigen Kampf um
Rechte einzusetzen.
Wir können nicht davor weglaufen, dass es einen irreparablen
Fehler gegeben hat, wir können die Welt nicht als harmonisch betrachten, denn
Auschwitz oder Mauthausen sind Tatsachen, die nicht wiedergutzumachen sind. Die
Welt ist nicht mehr harmonisch und deshalb müssen wir uns in dauerhafter
Alarmbereitschaft halten, am Ende ist die Idee des historischen Gedächtnisses
genau das, uns in ständiger Alarmbereitschaft halten, denn wenn nicht, ist die
Demokratie nicht automatisch in Sicherheit.
SCK: Vielen Dank!
Comín: Danke Ihnen!
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