Carles Puigdemont und Ai Weiwei: zwei Exil Dissidenten in Europa
Von SCK Redaktion
Carles Puigdemont und Ai Weiwei machen Selfie vor Valle de los Caídos Bild mit Stinkefinger |
Am 21.11.2018 trafen sie sich in Brüssels um u.a. über die
Macht der Poesie und der Kunst im Kampf für die Demokratie zu sprechen.
Ein sehr interessantes Gespräch zwischen Carles Puigdemont
und Ai Weiwei fand am 21.11.2018 unter Schirmherrschaft der berlinern Stiftung
Cinema for Peace und Moderation vom politischen Editor der Politico Zeitung
Ryan Heath mitten im Herz von Brüssel an der Grande Place statt. Das sind die
Themen, worüber sie dabei diskutiert haben.
Haft, Unterschied zwischen China und Europa
Selbst wenn eine Inhaftierung eine ernst zu nehmende Drohung
war, gibt Carles Puigdemont zu, dass die Einsamkeit der ersten Stunden im
Gefängnis ihn nicht gleichgültig gelassen haben. Dann hat er sich versprochen
niemals aufzugeben und hat Kräfte aus der Wiederentdeckung der Poesie durch die
allererste Lektüre, die er im Gefängnis per Post erhielt, gezogen. Schreiben
und danach das Geschriebene zu zerstören haben ihm auch geholfen. Das Gefängnis
hat noch mehr Sinn dem eigenen Kampf gegeben.
Für Ai Weiwei ist seine Inhaftierung unmenschlich, schwierig
und hart gewesen, aber sie hat seinem Kampf auch eine Bedeutung gegeben.
Für beide ist diese Erfahrung eine Lebenslehre mehr, die die
Selbstentwicklung prägt.
In China lässt man einen einfach „verschwinden“. Allerdings
ist man bei der Polizei verhaftet. Im Grunde gibt es keine Unterschiede
zwischen China und Spanien, was die Untersuchungshaft angeht. Es ist eine lange
Strafe, die ohne Gerichtsprozess vorgezogen wird.
Exil
Exil erweckt aber für beide unterschiedliche Gefühle. Ai
Weiwei’s Vater wurde bei der Kulturrevolution zur Umerziehung weit weg von
seinem Heimatort gesendet und er selbst wurde nirgends wirklich ansässig, daher
fühlt er eigentlich kein Heimweh. Das ist ganz anders bei Carles Puigdemont,
ein freier Mann überall in der Welt außer im spanischen Staat. Er vermisst
seine Heimat und Familie, deshalb versucht er jeden Tag als den letzten seines
Exils zu betrachten.
Rechtsstaat, Demokratie und das Referendum in Katalonien
Für Carles Puigdemont sind Legalität und Demokratie leider
nicht immer dasselbe. Demokratie liegt auf jedem Fall in den Händen der
Menschen. Es kann nicht sein, dass die Organisation eines Referendums
Gefängnisstrafen vor jeglichem Gerichtsprozess mit sich bringt. Unter diesen
Umständen muss man auf jedem Fall für die Freiheit kämpfen.
Ai Weiwei folgte den Nachrichten des Referendums in
Katalonien mit Spannung. Er war angenehm überrascht wie entschieden die
Menschen Ihre Grundrechte trotz der polizeilichen Repression verteidigten. Was
aber danach kam war sehr verblüffend, insbesondere weil das in Europa war. Eine
Situation, die seit der USSR sich dort nicht abgespielt hatte. Die Situation
von grundlegender Werten und Identität in Europa ist nicht zufriedenstellend.
Man muss alles neu definieren. Gerade deswegen werden immer Freiheitskämpfer
existieren.
Für Puigdemont sind in diesem Sinne doppelte Standards, eine
Doppelmoral, wenn es um Grundrechte geht, die größte Gefahren für die
Demokratie. Wenn man Polen, Ungarn und die Türkei aber nicht Spanien für die
gleichen Missstände kritisiert, dann haben wir ein Problem. Gerade hat der
Europäischen Menschenrechtsgerichtshof gegen die Türkei geurteilt, weil dort
die passiven Wahlrechte eines kurdischen Politikers durch eine
Untersuchungshaftstrafe verletzt worden sind. Das ist genau die gleiche
Situation wie die der katalanischen Politiker bei und nach der Wahl am 21.
Dezember 2017.
Gewaltentrennung, Verfassung, Dialog und
Kompromissbereitschaft
Die neue Regierung von Pedro Sánchez, international
vertreten vom berühmt-berüchtigten Josep Borrell, macht keine echten Schritte
zur Entspannung der Situation und behält die katalanischen Vertreter weiterhin
in Untersuchungshaft. Die Verfassung sieht dabei aber als eine Sperrmauer gegen
jegliche Art von Destabilisierung aus. Wie kann man somit den Dialog fördern?
Die GRECO Kommission zur Justizunabhängigkeit hat schon
mehrmals Spaniens Mangel an Gewaltentrennung moniert. Deshalb kann man diese
Inhaftierungen nur als politisch betrachten.
Dialog ist aber unerlässlich in einer politischen
Krisensituation wie die in Katalonien. In Worten von Puigdemont: »Dialog
vermeidet Probleme. Wir haben kein Recht darauf, nicht miteinander zu reden.
Allerdings bedarf Dialog die Anerkennung des Anderen als Ansprechpartner.«
Ob ein Kompromiss für mehr Autonomie für Katalonien möglich
wäre?
Ein ehrlicher Dialog setzt keine Grenzen voraus und bringt
mit sich das Verständnis, dass die Endentscheidung beim katalanischen Volk
liegt. Es gibt keinen Weg an einem Selbstbestimmungsreferendum vorbei.
Für Ai Weiwei ist Dialog der moderne Prozess von Demokratie,
eine Revolution ist ein Teil des Dialogs.
Ob eventuell die Antwort auf Dialog seitens Spanien die
Exhumation Francos sei? Inwiefern ist die katalanische Krise nicht eine
Infragestellung der Fracoistische Vergangenheit Spaniens?
Die Exhumation Francos und die Auseinandersetzung mit
bestimmten Missständen, wie die Staatsförderung der Franco Stiftung und die
Akzeptanz von Franco Symbolen und Parolen in der Öffentlichkeit, waren schon
längst überfällig. Verglichen mit dem Umfang mit der Nazizeit in Deutschland
ist es einfach unfassbar. In Spanien sind Menschen, die Wahlurnen verteidigt
haben, inhaftiert, während Faschisten frei rumlaufen dürfen.
Allerdings war die Verfassung am Ende der 70er Jahren eine
Hoffnung für viele. Ihre Mehrdeutigkeit schien eine Möglichkeit von
Weiterentwicklung zu sein. 40 Jahren später bleibt nichts davon und man sieht,
dass das eigentlich eine Sackgasse war.
Ai Weiwei erzählt von der Bedeutung seines „Stinkefinger
Bildes“ am Valle de los Caídos, Francos Mausoleum: Für ihn ist Geschichte
durchaus wichtig, Meinungsfreiheit hat aber Vorrang auf jeden Fall, es sei
denn, sie verletzt die Menschenrechte. Seiner Meinung nach hat die
Herausforderung der Autorität durch diesen Stinkefinger etwas Ikonisches.
Txell Bonet, Lebensgefährtin von Jordi Cuixart, politischer Gefangener |
Anekdote der Globalisierung und der Wahlurnenkauf
Die Wahlurnen des katalanischen Referendums wurden in China,
ein undemokratisches Land, erworben. Ai Weiwei meint dazu, wie ironisch
Globalisierung sein kann. Chinesen wissen nicht, wie Wahlurnen und -zetteln
aussehen, weil die Regierung nicht mal bei den einfachsten Entscheidungen dem
Volk vertraut.
Globalisierung bringt weit entfernte Realitäten
zusammen. Als Ai Weiwei sein Film in Griechenland über die Flüchtlinge gedreht
hat, machte er eine Bestellung in China, die normalerweise sehr schnell und
günstig ist, aber die Lieferanten meinten, dass sie eventuell später liefern
würden, weil sie abhängig von einem Lieferanten in der Türkei waren. Diese
verzwickten Wege stellen unvorstellbaren Beziehungen und „Zufälle“ dar.
Carles Puigdemont bemerkte, dass man in China die Wahlurnen
kaufen musste, weil man das in Spanien nicht machen dürfte. Währenddessen
wurden von Spanien 90 Millionen Euro darin investiert, das Referendum zu
stoppen. Trotzdem ist es ihnen aus folgendem Grund nicht gelungen: Die
Zivilgesellschaft hat sich massenhaft ermächtigt und organisiert, um dieses
Referendum mit allen Mitteln zu ermöglichen.
Zukunft der EU bei sinkenden Bürger–Beteiligung von Wahl zu
Wahl, die größte Bedrohung der Demokratie, Sicherheit und Technologie
Für Ai Weiwei ist Wählen nur ein Ausdruck von Demokratie,
aber nicht der einzige. Die wichtigsten Fragen werden immer noch von Politikern
allein entschieden. Die USA und europäische Länder verkaufen weiterhin Waffen
an Saudi-Arabien. Die Welt scheint sich nicht um Gerechtigkeit zu kümmern.
Carles Puigdemont meint, dass EU-Skepsis in Umfragen eine
Folge von Autoritarismus sei. Man verwendet Technologie, um Menschen zu
verfolgen, deshalb sind Bürger völlig ungeschützt in einem Überwachungsstaat.
Europäische Spitzenpolitiker sollten uns vor Autoritarismus und Mangel an
Intimität beschützen.
Ai Weiwei fügt hinzu, dass Technologie wohl gute Seiten wie
Internet haben kann. Allerdings wenn wir den Mächtigen keinen Halt setzen, sind
wir dann nur selber schuld. Wir haben nur ein Leben und wir müssen für uns
selbst herausfinden, was uns ein Wohlgefühl bringt. Politiker allein sind dafür
nicht verantwortlich, Religion gibt uns auch nicht alle Antworten. Es liegt in
erster Linie an uns.
Wenn aber der Chef von Interpol in China selbst mal
verschwindet gewesen ist, ist keiner mehr sicher, so Carles Puigdemont.
Wie kann dann Demokratie überleben?
Ai Weiwei meint, dass sie nur überleben kann, wenn sie sich
an den neuen gesellschaftlichen Bedingungen anpasst. Sonst stirbt sie.
Carles Puigdemont: Wenn man Politik nur aus dem Standpunkt
von ökonomischem Wachstum betrachtet, werden wir scheitern. Wir müssen
Menschenrechte stärken, z.B., wie gehen wir mit Flüchtlingen um? Was tun wir
mit dem Klimawechsel? Die Wirtschaft allein kann die Gesellschaft nicht
schützen. Der Grundsatz des Staates ist der Wille des Volkes. Warum soll das
Volk sich nicht an Entscheidungen beteiligen, die es direkt betreffen?
Valtònyc, Rap Sänger, im Exil wegen Liederinhalte gegen die Monarchie |
Rat für verfolgte Menschen?
Carles Puigdemont denkt, dass man immer wieder in der Lage
sein muss, sich selbst im Spiegel ohne Scham zu betrachten. Die eigenen
Interessen müssten immer hinter Freiheit und Demokratie liegen.
Ai Weiwei fügt hinzu, dass Gerechtigkeit und Aufrichtigkeit
Teil dieses Kampfes sein sollte.
Publikumsfragen an Ai Weiwei
Am Ende des Gesprächs kommen zwei Fragen aus dem Publikum.
Vom in Exil lebenden Rap-Sänger Valtònyc, der in Spanien zu einer
Gefängnisstrafe von 3,5 Jahre wegen seiner Lieder gegen die Monarchie
verurteilt worden ist, und von Txell Bonet, Lebensgefährtin von Jordi Cuixart,
Vorsitzender von der Zivilgesellschaftsorganisation Òmnium Cultural, momentan
in Untersuchungshaft seit dem 16. Oktober 2018 unter einer Aufruhr Anklage.
Valtònyc: Was würde einen Rap-Sänger in meiner Situation in
China geschehen?
In China wäre ein Rap-Sänger verschwiegen. Seine Konzerte
wären verboten, er müsste sich der Zensur, sogar was seiner Haltung und Umgang
angeht, unterziehen. Kreativität wird auch verfolgt und zensiert vom Staat und
Polizei. Genauso wie das Internet. Wenn man Kritik im Internet ausspricht, hat
man am nächsten Tag die Polizei zu Hause.
Txell Bonet: Sie bemerkt, dass ihr Lebensgefährte nicht da
sein kann, daher ist sie an seiner Stelle gekommen. Eine Zusammenkunft hat ihm
die Anklage von Aufruhr beschert. Somit kriminalisiert der spanische Staat das
Recht auf Meinungsfreiheit und Demonstration. Die Anzahl von der Justiz
verfolgten Menschen liegt bei über Tausend.
Ihre Frage: Wie kann man Menschenrechte mit Kunst und Kultur
verteidigen?
Ai Weiwei erwähnt das Leiden von Txell Bonet, die Monate
lang die lange Strecke nach Madrid hin und her mit ihrem Baby gemacht hat.
Seine Erfahrung ist, dass Kunst sehr wichtig als Ausdrucksform der
Ungerechtigkeit selbst für sehr einfache Menschen ist, weil Kunst halt ehrlich
ist.
Carles Puigdemont bedankt sich bei Valtònyc und Txell Bonet
für ihr hervorragendes Engagement für Meinungsfreiheit trotz ihrer jeweiligen
Schicksalsschläge. Solche Strafurteile sind einfach inakzeptabel in Europa. Es
geht nicht nur um die Unabhängigkeit von Katalonien, aber in erster Linie um
Freiheit und Demokratie, denn wir kämpfen auch für das Selbstbestimmungsrecht
derjenigen, die gegen die Unabhängigkeit sind.
Berichterstattung des Gesprächs in anderen Sprachen
Katalanisch
Spanisch
Englisch
Kommentare
Kommentar veröffentlichen