Selmayrgate: eine geschröpfte Kommission

In der Zeitung Libération "Coulisses de Bruxelles" erschien am 3. März 2018 ein Artikel von Jean Quatemer mit den Titel "Selmayrgate: une commission en coupe réglée" . Der Artikel befasst sich mit dem Vorgehen des Martin Selmayrs in Brüssel, seines Zeichens ehemaliger Beschäftigter der europäischen Zentralbank und ehemaliger Leiter der Bertelsmann AG in Brüssel, und der damit einhergehenden Entdemokratisierung der eurpäischen Institutionen. Unsere Übersetzung aus dem Französischen findest du hier.

Selmayrgate: eine geschröpfte Kommission


Die außergewöhnliche Stille der europäischen Kommissare vor dem regelrechten Coup von Martin Selmayr mag eine überzeugende und erschütternde Erklärung haben. Der neue Generalsekretär der Kommission und praktisch persönlicher Referent von Jean-Claude Juncker, der Präsident der Institution, ist in der Tat dabei, letzte Hand an ein Projekt zu legen, das 20 Monate vor Ende der Juncker Kommission stark den Status der abgehenden Kommissare verbessert. Warum also das Risiko eingehen, in die Hand zu beißen, die einen füttert?

Scheidende Kommissare hoch bezahlt 

Berichten zufolge würde das „Übergangsgeld“ für drei oder fünf Jahre und nicht mehr für zwei, wie es der Fall seit 2016 ist, bezahlt. Diese Abfindung, die abhängig von der Länge der bisherigen Funktionen von 40 bis 65 % des Grundgehaltes bedeutet, würde mindestens zwischen € 8.400 und € 13.500 pro Monat zusätzlich zu der Umzug Bonus von einem Monatsgehalt liegen. Dazu kommen noch eine ganze Reihe von Sachleistungen: ein Büro in der Kommission (wozu bisher nur ehemalige Präsidenten berechtigt waren), ein Firmenwagen mit Fahrern und zwei Assistenten. Dank dieser Manipulation wird ein ehemaliger Kommissar tatsächlich doppelt, wenn nicht sogar dreifach so viel von dem, was er zur Zeit verdient, erhalten; ganz davon abgeshen, dass die zur Verfügung stehenden Mittel nicht besteuert werden. Selbst wenn die Verlängerung der Dauer der Abfindungen (oder deren Erhöhung) die Zustimmung des Ministerrats (bestehend aus den Staaten) erfordert, ist dies aber nicht der Fall von Sachleistungen, die von der Haushalt der Kommission abhängig sind.

Die Idee, die von vornherein nobel ist, besteht darin, Interessenkonflikte zu vermeiden, da ehemalige Kommissare dazu neigen, höflich zu sein und Arbeitsplätze in Sektoren zu akzeptieren, die sie beaufsichtigt haben, um sich ein nettes Zubrot zu verdienen. Müssen wir an dem Fall von José Manuel Barroso, den ehemaligen Präsident der Kommission (2004-2014), erinnern, der mit Sack und Pack zu Goldman Sachs ging? Das Problem ist, dass es für den europäischen Steuerzahler teuer sein wird, und dass die Verwendung dieser Mittel durch Ex-Kommissare nicht kontrolliert wird.

Ein gemeinsames Manöver 

Dieses Projekt reift selbstverständlich nicht zufällig, genau wenn Selmayr die Macht in Brüssel übernimmt. Es ist wichtig zu wissen, dass es durch die für den öffentlichen Dienst zuständige Generaldirektorin, die Griechin Irene Souka, vorbereitet worden ist, und es wird die Zustimmung des neuen Generalsekretärs erfordern. Nun wurden Soukas Funktionen über das Rentenalter, den 21. Februar, (genau wie die ihres Mannes, der Generaldirektor für Energie, der Franzose Dominique Ristori) am selben Tag verlängert, an dem Martin Selmayr zu stellvertretenden Generalsekretär und in der gleichen Minute zu Generalsekretär befördert wurde, ein Manöver, das nur mit ihrer Unterstützung gelingen konnte... Viele innerhalb der Kommission sehen dies als ein globales Manöver, um eine Machtübernahme ohne Wirbel sicherzustellen. 

Clara Martínez zog ihre Kandidatur zurück

Ich bin auch in der Lage zu zeigen, dass die einzige alternative Kandidatin für den Posten der stellvertretenden Generalsekretärin, Clara Martínez, Assistentin von Selmayr, die nun persönliche Referentin von Juncker geworden ist, ihre Kandidatur schon am Bewerbungsschluss Ende Januar zurückzog (Bekanntmachung Nr 10-2018 des Ernennungsbeirates). Denn die Ausschreibung konnte nur gültig mit mindestens zwei Kandidaten, darunter einer Frau, sein. Ansonsten wäre das Verfahren unterbrochen worden. Sobald die Bewerbungfrist abgeschlossen wird, heisst es nun Pech gehabt, wenn nur eine Kandidatin im Rennen bleibt…

Besser noch, die neue Verteidigungslinie der Kommission, die behauptet, dass Selmayr als persönlicher Referent für mehr als zwei Jahren direkt zum Generalsekretär hätte ernannt werden können, ohne vorab stellvertretender Generalsekretär zu werden, ist juristisch absolut abwegig. Erstens, weil es in diesem Fall keinen Grund gibt, sich an einem schwindeligen Bewerbungsverfahren zu beteiligen. Aber vor allem, weil die interne Regel, die Selmayr selbst am Tag der Amtsübernahme der Juncker Kommission am 1. November 2014 einleitete, keine Rechtswirkung hat. Laut dieser Regel soll der persönliche Referent eines Kommissars den Rang eines Generaldirektor haben.


Die Einmischung von Staaten vermeiden

Tatsächlich ist sie nicht in der Satzung des europäischen öffentlichen Dienstes, vom Europäischen Parlament und Ministerrat angenommen. In Wirklichkeit ist es eine interne Nutzungsregel, um die Autorität des persönlichen Referents zu bestätigen, keine Änderung in ihrer Funktion oder Rang. Das bedeutet: Selmayr war nur Direktor (eine Position, die er einen Tages im Jahr 2014 ausgeübt hat) nach Besoldungsgruppe AD 15 (persönliche Förderung und nicht verbunden zu seiner politischen Funktion von persönlicher Referent in 2017) und nicht Generaldirektor. Nun, diese Versetzung eines Beamten ohne Verfahren „darf nur bei einer Stelle seiner Funktionsgruppe stattfinden, die seiner Besoldungsgruppe entspricht“, so wie es Artikel 7 der Satzung darstellt. Natürlich ist es notwendig, dass sowohl die Funktion als auch die Besoldungsgruppe gleichzeitig von einer Generaldirektion auf eine andere übertragen wird, was bei Selmayr, der nur Direktor und AD15 war, nicht der Fall war, während ein Generalsekretär nur AD16, die höchste Besoldungsgruppe im europäischen öffentlichen Dienst, sein kann. Daher ist es notwendig, die Stufe des „stellvertretenden Generalsekretärs“ zu durchlaufen, um die richtige Funktion und Rang zu erhalten. Andernfalls hätte man warten müssen, bis Alexander Italianer, der scheidende Generalsekretär, sein Amt niederlegt, sein Amt zur Bewerbung veröffentlicht ist, Selmayr und andere sich darum bewerben können, das Verfahren durchgeführt und schließlich vom Kollegium der Kommissare benannt wird. Eine solche Förderung wäre dann unanfechtbar gewesen.

Das ist genau das, was Selmayr vermeiden wollte, um die Einmischung von den Staaten zu verhindern. Da es nur um einen Posten als stellvertretender Generalsekretär ging, wurden keine Ausschreibungen vorgenommen, da der Posten nicht als strategisch eingestuft wurde. Das gefälschte Ernennungsverfahren, welches weniger als 15 Tage dauerte, gefolgt vom Rücktritt von Italianer und der Blitzernennung Selmayrs haben die 28 daran verhindert zu reagieren…

Juncker unter Überwachung  

Selmayr verschwendete keine Zeit, um seine Macht zu festigen. Am Donnerstagmorgen, der Tag seines Amtsantritts, wandte er sich an alle Beamten der Kommission in einem Schreiben auf Englisch, Französisch und Deutsch, einen beispiellosen Vorstoß und klaren Präsidentschaftsansatz. Er kündigte dabei an, dass unter seinem wachsamen Auge das Generalsekretariat nicht nur „der Motor, der unserer Institution ins Rollen bringt, sondern das Herz und die Seele unserer Kommission (wird)“. Und wir dachten, dies sei das Kollegium der Kommissare. Besser noch: nach der Website Contexte bereitet er sich darauf vor, große Umbaumassnahmen vollzuziehen, so dass sein Büro neben dem von Juncker liegt, obwohl das Generalsekretariat sich zur Zeit in einem anderen Flügel des Berlaymonts, das Sterngebäude der Kommission, befindet. Und nach meinen Informationen hat er vor, weiterhin als Vorsitzender die Sitzungen des Präsidentenkabinetts zu leiten, was bestätigt, dass Martínez nur eine Marionette ist... Kurz gesagt, Juncker wird überwacht. 

Und es kommt noch schlimmer: Nach unseren Informationen will er den juristischen Dienst, der bisher unabhängig gewesen war, unter seine Aufsicht stellen und an der Spitze eine seiner Kreaturen setzen, nämlich die von nun an berühmte Clara Martínez, anstelle des aktuellen Generaldirektors Luís Romero, der sich dem Rentenalter nähert. Es ist, als ob die französische Regierung den Staatsrat (die eine Rolle als Rechtsberater im Gesetzgebungsverfahren hat) unter seine Autorität stellt. Zur Verdeutlichung: die Rechtsgutachten der Kommission, Hüterin der EU-Verträge, wird dadurch nicht mehr unabhängig, sondern wird der vorherigen Kontrolle Selmayrs unterworfen. Warum will man die Kommission in ihrer Schlüsselrolle zerstören? Wahrscheinlich um einige Hauptstädte zu „kaufen“, darunter Paris oder Rom, die sich ungern befehlen lassen, das Gemeinschaftsrecht zu respektieren. Mit anderen Worten ist Selmayr bereit, die Kommission zu schwächen, um an seinem Platz zu bleiben. Das bedeutet ein „europäischer Föderalist“ zu sein, wie er das verkündet.

Unbehagen der Eurokraten  

Innerhalb der Institution weht ein Wind der Revolte, und das ist eine Premiere. Eurokraten fühlen sich vor diesem Mangel an Respekt vor den Regeln gedemütigt, vor allem, da sie sich bewussst sind, dass dies die Kommission schwächt: „Wie sollen wir dem griechischen Staat erklären, dass man transparenten Regeln bei der Einstellung von Beamten einführen soll, wenn wir das Gegenteil tun“, bedauert ein Beamte. Die Episode „zeigt eine vollständige Undurchsichtigkeit in einer Institution, die für Transparenz zuständig ist“, sagte in der belgischen Wirtschaftszeitung, l'Echo Franklin Dehousse, ehemaliger belgischer Richter am Gericht der Europäischen Union: „Das zerstört das Vertrauen von Beamten in die Verfahren. Schließlich stärkt diese Ernennung den Eindruck, dass die europäischen Institutionen immer mehr zu einem Protektorat Deutschlands werden, das inzwischen fast alle Führungspositionen einnimmt".


aus dem Französischen von Eva


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